Die Furcht vor dem weißen Kittel
„100 Jahre SGK – Vom Staatlichen ProGymnasium Kusel (1924) zum Siebenpfeiffer-Gymnasium Kusel (2024)“ feiert die Schule in diesem Jahr. Die RHEINPFALZ hat Leserinnen und Leser dazu aufgerufen, in Erinnerungen zu kramen, Anekdoten und Erlebnisse ihrer Schulzeit beizusteuern. Weitere haben sich zu Wort gemeldet – darunter zwei ehemalige Landtagsabgeordnete und ein früherer Redaktionsleiter der RHEINPFALZ.
Von Hans-Joachim Redzimski
Wer erinnert sich nicht an den Kultfilm „Die Feuerzangenbowle“? Und an den Physik-Professor Bömmel und seine plastische Beschreibung einer „Dampfmaschin“, während er sich auf dem Katheder von seinen Schuhen befreit und ein Pennäler aus der ersten Reihe einen seiner schwarzen Lederschuhe greift und versteckt. Die Szene dürfte allen von uns im Gedächtnis sein. Na ja, und wie es weitergeht auch. Nun, das war filmische Fiktion. Es wird sich kaum an einer Schule tatsächlich so zugetragen haben. Als ehemaliger Schüler am Staatlichen Gymnasium Kusel, heutig Siebenpfeiffer-Gymnasium, kann ich zumindest von keinem vergleichbaren Schabernack erzählen.
Wir Schüler konnten uns in der Oberstufe allerdings auch richtig austoben. Wir gehörten mit zu den ersten, die die Mainzer Studienstufe mitgemacht haben. Die Lehrer hatten noch nicht so recht Erfahrung mit dem neuen Schulsystem. Wir haben versucht, das Beste daraus für unsere Schulzeit und für unser Punktekonto zu machen. Es war ein bisschen List, ein bisschen Pfiffigkeit, ein bisschen Täuschung, ein bisschen Übermut, ein bisschen Freigeist dabei. Einzelheiten möchte ich an dieser Stelle nicht ausbreiten. Es reicht, wenn wir uns im kleinen Kreis immer noch amüsiert über unsere Finessen verlustieren. Dabei soll es auch bleiben …
Zurück zu Professor Bömmel und seinem Physikunterricht und damit zurück in die meiner Erinnerung nach gedämpfte Zeit der Mittelstufe. So komödiantisch, so spritzig, wie die rheinische Frohnatur den Unterricht in der Feuerzangenbowle gestaltete, ging es in meinem Physikunterricht nicht zu. Mein Fachlehrer war ein anderer Charakter. Es war ein stockgerader, großer, hagerer Mann im weißen Kittel. Er schaffte es, sich allein durch sein Erscheinungsbild und seine Haltung Aura und Autorität zu verschaffen und in mir Furcht aufsteigen zu lassen. Ich erinnere mich gut an die Wochentage, an denen Physik auf dem Stundenplan stand. Es war mir unbehaglich zumute.
Es war ein Ritual, das der promovierte weiße Kittel stets zu Beginn jeder Stunde zelebrierte. Er setzte sich im Physiksaal links am Fenster auf einen Stuhl, holte das taschenbuchformatige Notenbuch heraus und blätterte darin. Es war mucksmäuschenstill im Klassensaal, während er das tat. Mit Bangen, mit Beklemmung haben wir darauf gewartet, wer zur mündlichen Überprüfung des Pensums der letzten Stunde vor ihn treten musste. Jeder musste damit rechnen, sich als guter oder schlechter Schüler offenbaren zu können oder zu müssen. Atemstille.
Aber, auch der weiße Kittel konnte überlistet werden, wenn man seine Ritualhandlung mit der Zeit durchschaut hatte. Wer nämlich in einem Schulhalbjahr einmal dran war, konnte den Physikunterricht in der Folge ruhig und gelassen angehen. Er musste seine Kenntnis nicht ein zweites Mal beweisen, so er sich nicht zwischen vier und fünf im Klassenabstiegskampf befand. Ihm erteilte der weiße Kittel noch eine weitere Bewährungschance.
Man musste es also schaffen, gut vorbereitet zeitig im Halbjahr an die Reihe zu kommen. Durch Gestik und Mimik konnte man die Suche des weißen Kittels nach dem geeigneten Prüfling beeinflussen, vor allem wenn man in der ersten Reihe links am Fenster gesessen hat. Ich habe Physik nach der Mittelstufe abgewählt, wie es in der Sprache der Mainzer Studienstufe hieß. Und mich damit von dem weißen Kittel und seiner Ausstrahlung erleichtert verabschiedet. Es warteten neue Herausforderungen auf mich. Während ich dies schreibe, denke ich darüber nach, ob der weiße Kittel mit seinem Ritual bewusst diese Furcht unter uns Schülern geschürt hat oder ob es für ihn nur ein ganz simpler Vorgang der Leistungsüberprüfung war, der für einen gelehrigen Schüler kein Problem hätte sein dürfen. Ich weiß es nicht, womöglich war es von beidem etwas.
Dem weißen Kittel bin ich später noch mal zufällig in der Innenstadt von Kusel begegnet. In Zivil. Ich weiß noch genau, wo es war. Wir grüßten uns freundlich. Er strahlte, er lachte. Vielleicht steckte unter dem weißen Kittel am Schluss doch ein Bömmel …
Die Furcht vor dem weißen Kittel ist hängen geblieben, als Erinnerung an eine bewegte und bewegende Schulzeit. Als Teil eines realen Jugendstücks in sieben Akten und ungezählten Szenen. Mit einem heute noch dankbaren Darsteller, einem unter vielen.
Übrigens: Meine Zeit am Kuseler Gymnasium ist am 3. Juni 1978 zu Ende gegangen. Mit einer nüchternen Übergabe der Abiturzeugnisse in einem Schulsaal. Eine Rede, ein Händedruck – und ab ins Leben. Unsere Generation, die das Gymnasium an der Walkmühle einst zu einem der größten weit und breit gemacht hatte, hatte nicht viel übrig für einen feierlichen Abschluss mit Festakt und Ball, und das sehr zum Leidwesen unseres damaligen Schuldirektors Hans Froeßl.
Der Autor
Der gebürtige Danziger Hans-Joachim Redzimski ist im Schulbuben-Alter nach Kusel gelangt. Am Kuseler Gymnasium hat er Abitur gemacht, danach seine journalistische Ausbildung in Wiesbaden absolviert. Als Redakteur kehrte er nach Kusel zurück – aber nur kurz: Auf Stationen in Zweibrücken und Ludwigshafen folgte Kaiserslautern – und damit verbunden war eine (Berufs-)Lebensaufgabe: Über 28 Jahre lang leitete „rdz“ die Kaiserslauterer Lokalredaktion der RHEINPFALZ. In Lautern lebt Redzimski bis heute, lässt sich aber zu vielerlei Gelegenheit sehr gern in Kusel blicken.
(veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Rheinpfalz)
Quelle
Ausgabe | Die Rheinpfalz Westricher Rundschau – Nr. 120 |
Datum | Samstag, den 25. Mai 2024 |
Seite | 15 |